Langzeitüberlebende: Die brauchen mich noch!

Claudia Braunstein ist eine Langzeitüberlebende: Sie überlebte Krebs. Der Besuch beim Zahnarzt sollte im Juli 2011 ihr Leben von einem Moment auf den anderen verändern – aber auch retten. Wegen eines ausgefallenen Inlays suchte Claudia Braunstein ihren Arzt auf. Bei der Gelegenheit zeigte die Österreicherin dem Mediziner eine Stelle an ihrer Zunge, die sie sich regelmäßig aufbiss. Dieser zögerte nicht lange und überwies die damals 48-Jährige umgehend an einen Spezialisten. Nur eine Woche später erhielt Claudia Braunstein die Diagnose: Plattenepithelkarzinom – Krebs am rechten Zungenrand. Claudia Braunstein begann zu kämpfen und siegte über den Krebs.

Frau Braunstein, ab wann gilt ein Krebspatient als geheilt? Sie bezeichnen sich selbst außerdem als Langzeitüberlebende. Was war für Sie der Startpunkt?

Seit dem Tag, an dem ich aus der Onkologie in das Archiv gewandert bin. So formulierte es meine Ärztin und meinte damit meine Akten. Das bedeutet, dass ich fünf Jahre nach der Behandlung keinen Rückfall hatte. Ich bin aus der Abteilung raus und habe erstmal hemmungslos geweint. Das war also 2016.

Die Diagnose Krebs war für Sie damals überraschend. Hatten Sie vorher keine Ahnung, dass etwas nicht stimmen könnte?

Es gab wohl Anzeichen, aber ich wusste diese vorher nicht einzuordnen. Viele Menschen mit der gleichen Erkrankung sind alkoholkrank oder Raucher. In meinem Fall wurde der Krebs allerdings vermutlich durch HPV, Humane Papillomviren, ausgelöst. Was sich gleich noch an einer 2. Diagnose zeigte. Denn bei mir wurde außerdem noch beginnender Gebärmutterhalskrebs festgestellt. Auch diese Krebsart wird durch HPV ausgelöst.

Eine Woche nach ihrem Zahnarztbesuch hatten Sie die Diagnose Krebs am rechten Zungenrand. Was folgte dann?

Mir wurde ein Teil der beweglichen Zunge entfernt und durch ein Implantat ersetzt. Es folgten Bestrahlung und Chemotherapie. Ich hatte einen starken Gewichtsverlust, da ich die Sondenernährung ablehnte. Zeitweise war ich ein einhundertprozentiger Pflegefall. Mein Arzt leitete dann gegen meinen Willen entsprechende Maßnahmen ein. Heute bin ich ihm sehr dankbar dafür. Die Sonde abzulehnen war ein Irrtum von mir. Ich konnte auch gar nicht mehr sprechen. Das ist für jemanden, der ständig den Mund offen hat, eine dramatische Situation.

Was hat Ihnen geholfen, die Behandlung durchzustehen?

Die größte Stütze war die Familie. Es hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, in einem stabilen Umfeld zu leben. Ich würde es keinem Angehörigen raten, aber mein jüngster Sohn sagte zu mir: „Mama, reiß dich zusammen, wir brauchen dich noch.“ Das war für mich ein Antrieb. Ich wusste, die brauchten mich noch als Person.

Nun gelten Sie als krebsfrei, sogar als Langzeitüberlebende. Wieviel Raum nimmt die Krankheit noch immer in Ihrem Leben ein?

Das Thema Krebs wird immer bei mir sein. Zum einen beruflich, ich verdiene auf meinem Blog mit dem Thema auch Geld. Dann habe ich immer noch tagtäglich mit den Folgen der Krebserkrankung zu tun. Wenn ich ausgehe, muss ich mich vorbereiten. Denn ich habe eine Dysphagie, eine Schluckstörung. Das tägliche Essen, wenn ich meinen Löffel an den Mund führe, erinnert mich immer daran. Dann bin ich auch sprachlich eingeschränkt. Ich muss mich ständig erklären. Oft wird eine sprachliche Behinderung mit einer geistigen Behinderung gleichgesetzt. Da würde ich mir wünschen, die Leute würden fragen, warum reden Sie so merkwürdig?

Auch wenn Sie als krebsfrei, ja Langzeitüberlebende gelten, müssen Sie immer noch regelmäßig zur Nachsorge. Wie geht es Ihnen damit?

Ja, ich muss alle 6 Monate zur Kontrolle. Ich gehöre zur seltenen Spezies, die gerne zur Nachsorge geht. Mir wird dort sehr viel Empathie entgegengebracht, ich werde dort auch als Vorzeigepatientin herumgereicht. Außerdem gehe ich so hin: Meine Nachsorgeuntersuchungen sind nur die Bestätigung meines letzten Zustands. Es ist doch schade, wenn man sich die Energie selber nimmt.

Hat sich Ihre innere Einstellung seit Ihrer Krebserkrankung geändert? Wenn Sie sich selbst als Langzeitüberlebende sehen, was bedeutet das für Sie?

Ich empfinde viel Dankbarkeit und Demut. Ich bin auch dankbar in einem Land zu leben, das medizinisch so ausgezeichnet aufgestellt ist und bei dem so viele Leistungen von der Krankenkasse übernommen werden. Ich gebe sehr viel. Ich berate andere Patienten mit derselben Erkrankung unentgeltlich. Dafür habe ich eine psychoonkologische Ausbildung gemacht. Aber ich verdiene auch Geld mit meiner Erkrankung.

Welchen allgemeinen Ratschlag geben Sie Krebspatienten oder Krebs-Überlebenden mit auf den Weg?

Man kann mental viel machen, indem man das Positive sieht. Ich versuche unwichtige und negative Dinge soweit es geht wegzuschieben. Positives Denken funktioniert nicht – aber eine positive Grundeinstellung. Das kann man lernen. Ich kann morgens aufwachen und aufzählen, was ich alles nicht kann, oder ich kann aufzählen, was alles schön ist!

Liebe Frau Braunstein, vielen Dank für das Gespräch!

 

Titelfotos: Claudia Braunstein/Verlag Anton Pustet